Das Gedenken am 9. November

Am 9. November eines jeden Jahres wird der Opfer der Reichspogromnacht und von Gewaltherrschaft gedacht.
In Reinickendorf wird gleichzeitig auch der Opfer des Ortes Lidice gedacht, die bei der Zerstörung des Ortes oder als Folge davon ihr Leben verloren haben. Dabei werden am Rosenbeet hinter dem Rathaus Reinickendorf roten Rosen abgelegt. Die Rose ist das Symbol von Lidice.

Es ist dabei zu einer guten Tradition geworden, dass Schülerinnen oder Schüler, die an der Gedenkstättenfahrt des Arbeitskreises nach Lidice teilgenommen haben, im Rahmen der Gedenkveranstaltung eine Rede halten, in der sie ihre Sicht auf das Thema, ihre Gefühle und ihren Umgang damit beschreiben.
Im Bild: Mariella Jahn vom Europ. Gymnasium Bertha-von-Suttner im Jahr 2022

Rede von Mariella Jahn am 9. November 2023:

Sehr geehrte Anwesende,

"Die Geschichte lehrt uns, dass diejenigen, die die Vergangenheit vergessen, dazu verdammt sind, sie zu wiederholen." Dieses Zitat von George Santayana stammt bereist aus dem Jahre 1905.

Warum setzen viele das Vertrauen wieder in Populisten und rechtsradikale Parteien - trotz der schmerzhaften Lehren der Geschichte? Haben wir schon vergessen, zu welchen Gräueltaten ebendiese Ausgrenzung und Hetze vor 90 Jahren schließlich geführt hat?

In den 1930er Jahren entstand eine gefährliche Kombination aus rassistischer Ideologie und Kriegsambitionen, die systematischen Terror und die Grundlage für fanatischen Antisemitismus als offizielle Staatsdoktrin schuf. Dieses Regime wurde von großen Teilen der deutschen Bevölkerung unterstützt, vor allem von treuen Anhängern der NS-Diktatur. Viele von ihnen setzten sich […] für die Enteignung, Ausgrenzung und Ermordung unschuldiger Menschen ein.

Die Pogromnacht vor etwa 85 Jahren markierte den Übergang von Diskriminierung zur brutalen Vertreibung der Juden. Von den Nationalsozialisten als "Reichskristallnacht" verharmlost. In dieser Nacht gab es gewalttätige Angriffe auf jüdische BürgerInnen, deren Geschäfte und Synagogen im gesamten Deutschen Reich. Über 1.300 Menschen wurden ermordet und mehr als 30.000 Jüdinnen und Juden verhaftet, 1.406 Gotteshäuser waren zerstört, und Tausende Geschäfte verwüstet. SS- und SA-Männer, NSDAP-Mitglieder und deutsche Zivilisten beteiligten sich an diesen Gräueltaten, die schließlich zum Holocaust führten.

Im Rahmen der Deportationen wurden zahlreiche Jüdinnen und Juden in Konzentrationslager verschleppt, auch in das KZ Ravensbrück […]. Dies war ein Ort, an dem die Brutalität des NS-Regimes auf schreckliche Weise sichtbar wurde. Die Insassen - vor allem Frauen - lebten unter unmenschlichen Bedingungen.

Ein […] trauriges Beispiel war die Deportation von Bewohnerinnen aus dem Dorf Lidice in der Nähe von Prag im Juni 1942 nach Ravensbrück. Die Nationalsozialisten verübten grausame und willkürliche Rache nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich, obwohl es keine Beweise für eine Unterstützung der Attentäter auf den ranghohen Nationalsozialisten durch die DorfbewohnerInnen gab. Konnte es auch nicht, denn sie waren unschuldig. Alle Männer über 15 Jahre wurden erschossen, die Frauen ins KZ Ravensbrück gebracht. Die meisten Kinder wurden in den Gaskammern der Nationalsozialisten ermordet, wenige zur "Umerziehung" verschleppt.

 


Lidice wurde buchstäblich von der Landkarte getilgt. Das Dorf wurde nach dem Krieg in unmittelbarer Nähe wieder aufgebaut […], heute erinnert am ursprünglichen Ort ein grünes Tal an das Dorf, in dem einst gewöhnliche Menschen lebten. Ich habe in diesem Jahr bereits zum dritten Mal mit dem Arbeitskreis Politische Bildung dieses so friedlich daliegende Tal besucht, das einen erschütterndem Kontrast zur Gewalt gegen die unschuldigen Menschen darstellt.

Wir als AG Gedenken treten auch mit Holocaust-Überlebenden in Kontakt, um eine einzigartige und lebendige Verbindung zur Geschichte zu schaffen. So interviewten wir in diesem Jahr Margot Friedländer und Albrecht Weinberg.

Margot Friedländer musste nach der Verhaftung und Deportation ihrer Mutter und ihres Bruders im Januar 1943 15 Monate im Untergrund leben, bevor sie nach Theresienstadt verschleppt wurde. Nach der Befreiung des Lagers im Frühjahr 1945 wanderte sie mit ihrem Ehemann in die USA aus und kehrte erst im Jahr 2010 im hohen Alter nach Berlin zurück, um ihre Geschichte an künftige Generationen weiterzugeben.

Albrecht Weinberg erlebte als Kind in den 1930er Jahren die Anfänge der Ausgrenzung und wurde später in Auschwitz und Bergen-Belsen interniert. Seine unglaubliche Überlebensgeschichte zeigt den ungebrochenen Willen eines Menschen, sich dem Grauen des Holocaust zu widersetzen. Er wanderte in die USA aus und kehrte erst im hohen Alter nach Ostfriesland zurück.

Diese beiden Schicksale verdeutlichen auf beeindruckende Weise die Widerstandsfähigkeit des menschlichen Geistes und unterstreichen die Wichtigkeit, die Erinnerung an die Schrecken des Nationalsozialismus zu bewahren, um sicherzustellen, dass sich solches Unrecht nie wiederholen kann.

Umso schlimmer wirkt das Massaker am 7. Oktober in Israel nach. Umso bedrohlicher ist der Anstieg der antisemitischen Vorfälle und Übergriffe im vergangenen Monat. Umso mehr dürfen wir NS-Verharmlosung und Antisemitismus nicht unwidersprochen lassen. Ebenso wenig populistische Stimmungsmache gegen Geflüchtete. Ganz gleich, ob diese Diskriminierung auf der Straße, in den Medien oder durch Vertreter*innen unterschiedlicher Parteien geäußert wird.

Die Vorstellung, dass Menschen unterschiedlich viel wert sind, führte vor 90 Jahren zu unermesslichen Gräueltaten. Zu diesen gehört auch die Vernichtung des Dorfes Lidice. Wir müssen sicherstellen, dass dies nicht aus der kollektiven Erinnerung verbannt werden kann und wir aus der Vergangenheit gelernt haben.